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Sonntag, 31. Oktober 2010

Predigt zum Reformationstag

Bei totalem Stromausfall in Alanya feierten etwa 100 Gottesdienstbesucher/innen im großen Sall des Konservatoriums ihren Gottesdienst zum Reformationstag. Ohne Orgelbegleitung wurden die großen Lutherchoräle gesungen. Die Ansprache zum Reformationstag können Sie hier lesen.


Liebe Gemeinde, besonders liebe katholische Christen,

Sie haben das wohl so gut es ging mitgesungen: „Erhalt uns Herr bei deinem Wort…“ Kennen Sie den ursprünglichen Text? Er hieß: „Erhalt uns Herr bei deinem Wort und steure Papst und Türken Mord…“ Vielleicht kann man sich darüber ein anders Mal unterhalten, über den Papst und Luther, über Luther und die Türken. Heute ist Reformationstag und da möchte ich nicht so sehr die Streitigkeiten in den Vordergrund stellen, sondern das, was ihn zum Reformator machte und vielleicht auch uns bewegen kann.
Sie haben vorhin einen für Martin Luther wichtigen Bibeltext gehört: Römer 1,16 und 17. Ich schäme mich des Evangeliums nicht, denn es ist eine Kraft Gottes zum Heil allen Glaubenden, zuerst den Juden und dann den Griechen. Denn Gottes Gerechtigkeit wurde in ihm offenbart, aus Glauben zum Glauben, wie ja auch geschrieben steht: Der aus Glauben Gerechte wird leben.
Hören Sie das, so bleibt Ihnen auf jeden Fall bewusst, dass das Wort „Glauben“ die beiden Sätze sehr dominiert. Das Wort „Glauben“ ist für Martin Luther Zeit seines Lebens ein entscheidendes Wort geblieben. Es war Luther so wichtig, dass Karl Barth, der große Theologe aus Basel, in seiner Wohnung vor die Ausgabe der Werke Martin Luthers einen Vorhang hängte, allen, die sich mit Martin Luther beschäftigten zur Warnung. Karl Barth sah nämlich bei Luther die Gefahr, dass die Heilstatsachen sich in subjektive Behauptungen wandeln könnten, dass sich keiner mehr an ihnen stoßen konnte.
Sie kennen das Problem, liebe Gemeinde, mein Glauben ist meine Sache. Mein Glauben geht niemanden etwas an, meinen Glauben baue ich mir selber. Karl Barth hat befürchtet, dass „mein Glauben“ „den Glauben“ kaputt macht.
Das hat Martin Luther zweifellos nicht so verstanden, obwohl es sicher ist, dass der Glauben für Luther das A und O all dessen ist, was mit Christentum gemeint ist.
„Glaubst so hast du, glaubst du nicht, so hast du nicht!“ „Gott und Glaube kommen zuhauf“ …Das sind ganz entscheidende Sätze, durch die Martin Luthers Theologie blitzartig erhellt wird.
Der Glaube, unser Glaube, mein Glaube…von unserem kurzen Bibeltext gibt es zwei Übersetzungen. Luther las mit seiner Tradition: Der Gerechte wird aus Glauben leben. Aber dann durchfuhr es ihn wie ein Schlag, als ihm die andere Übersetzung gelang: Der Gerechte aus Glauben wird leben.
Das war Luthers große Entdeckung, die ihn nicht wieder losließ. Der Mensch gefällt Gott im Gewand des Glaubens. Der Glauben macht den Unansehnlich ansehnlich vor Gott und den Hässlichen schön. Der Mensch ist durch den Glauben gerechtfertigt vor Gott. Die Rechtfertigungslehre ist die Kurzbeschreibung dessen, was Menschsein bedeutet.
Ärgern Sie sich nicht, liebe Gemeinde, wenn Sie das nicht gleich fassen. Oder wenn Sie in sich ein deutliches „nein“ hören.
Ganz andere als wir sind damit nicht zurechtgekommen. Zum Beispiel der berühmte Humanist Erasmus von Rotterdam.
Zuerst sah es für viele der Zeitgenossen Luthers und des Erasmus so aus, als zögen die beiden an einem Strang. Erasmus war ein Sprachgenie. Er sprach nur Lateinisch, seine 2000 Brief und seine 150 Bücher sind in Griechisch oder Lateinisch geschrieben. Für Martin Luther und seine theologischen Mitarbeiter besonders interessant: Erasmus von Rotterdam gab 1516 die erste kritische Edition des Neuen Testaments heraus, die Luther wohl bei seiner Bibelübersetzung auf der Wartburg benutzte.
Erasmus, ein Feingeist, ein Kritiker hatte seine Forderungen an die Kirche. Aber er wollte eine Reform der Kirche von innen, keinen Kampf auf Leben und Tod, wie ihn Luther zu kämpfen bereit war.
Die beiden sehr unterschiedlichen Charaktere Luther und Erasmus sind sich nie persönlich begegnet. Ab 1519, also zwei Jahre nach dem Thesenanschlag, standen sie in einem Briefwechsel. Schon bald zeigte es sich, dass sie nicht an einem Strang ziehen konnten. Zugespitzt hat sich das in ihrem Verständnis des „freien Willens“ des Menschen.
1524 erschien die Schrift des Erasmus „De libero arbitrio“, „Vom freien Willen“. Und Martin Luther reagierte darauf mit der Erwiderungsschrift „De servo arbitrio“, „Vom unfreien (bzw. geknechteten) Willen“.
1525 war für Martin Luther ein wichtiges Jahr. In dem Jahr heiratete Luther die entsprungene Nonne Katharina von Bora. Nicht aus Liebe, sondern weil Katharina versorgt werden musste und weil Luther mit diesem Schritt ein weiteres Sakrament säkularisierte, das Sakrament der Ehe. Nicht unerwähnt darf bleiben, dass 1525 der Bauernkrieg von den Fürsten blutig niedergeschlagen wurde und dass Martin Luther unerträglich scharf Partei gegen die Bauern ergriffen hatte.
Zurück zu den beiden großen Geistern. Hat der Mensch einen freien oder einen unfreien Willen? Selbstverständlich kann der Mensch sich entscheiden, ob er isst oder hungert, ob er schläft oder wacht ob er einen Regenschirm ergreift, wenn es regnet oder nicht, ob er seine Zähne putzt…Den beiden Großen ging es um die Frage, ob der Mensch etwas tun kann für sein Heil. Hat Gott die ganze Arbeit zu leisten, wenn es um den Erwerb des ewigen Lebens geht oder kann sich der Mensch daran beteiligen. Selbstverständlich hat Erasmus nicht im Traum daran gedacht, der Mensch könne das ewige Leben allein erwerben. Gott spielt dabei eine wichtige Rolle, aber was kann der Mensch dazu beitragen?
Für Erasmus war klar, dass der Mensch solch einen freien Willen hat, wie sollte er sonst verantwortlich sein für sein Leben? Martin Luther dagegen malt ein Bild, mit dem er die Versklavtheit des menschlichen Willens im Blick auf das Heil illustriert. Der Mensch ist ein Reittier, entweder er wird vom Satan in die Hölle oder von Jesus Christus in den Himmel geritten. Gerade im Blick auf das ewige Leben, so Martin Luther, muss der Mensch davor bewahrt werden, selber zu bestimmen. Denn was kann der sündige Mensch schaffen außer Unheil?
Luthers Buch vom „Unfreien Willen“ ist das Härteste, was an theologischen Schriften erschienen ist, auch Luthers Freund, wie Philipp Melanchthon, waren über die Schrift sehr unglücklich. Ich meine, man kann diese Schrift nur ertragen oder etwas verstehen, wenn man sich klar macht, dass für Luther Quelle und Maßstab des Glaubens allein die Bibel war bzw. dass der Glaube schafft, was kein Sein hat.
Liebe Gemeinde, Martin Luthers Entdeckung des Glaubens hat zur Folge, dass Glaube und Wissen, Glaube und Moral sich trennten. Uns wird ja immer unterstellt, der Glaube wäre ein minderes Wissen oder im besseren Fall eine Vorstufe zum Wissen. Aber das ist falsch. Der Christusglaube ist ein Macht, die den Menschen von sich wegreißt hin zu Gott, die den Sterblichen dem Tod entreißt und ins Leben hinein reißt.
Wenn es Glaubende gibt, dann sind es neue Geschöpfe Gottes, wenn der Glaube fehlt, so hat es Gott (noch) nicht gefallen, Glauben zu schenken.
Karl Barth, erkannte, wie Luther missverstanden werden kann, hat auf die Frage, wie viel der Mensch mit seinem Heil zu tun hat, geantwortet, so viel wie der Erhängte mit seinem Strick.
Liebe Gemeinde, Reformation heißt nicht so sehr, dass sich die Kirche wandelte, Reformation heißt eher, dass Gott wieder zugeschrieben bekommt, was sein Werk ist, die neue Schöpfung, da Leben, das hier schon beginnt. Amen

Montag, 18. Oktober 2010

Kamerateam des ZDF zu Gast bei der Gemeinde

Zwei Tage wurden wir von einem Kamerateam des ZDF begleitet. Für alle Schaulustigen: Das Ergebnis kann man am Dienstag 19.10.10 im ZDF in der Mittagsschau bzw. abends in den 21.45 Uhr Nachrichten sehen. Die Predigt unseres „Fernsehgottesdienstes steht hier unten.

Wir bitten und ermahnen euch in dem Herrn Jesus, da ihr von uns empfangen habt, wie ihr leben sollt, um Gott zu gefallen, was ihr ja auch tut -, dass ihr darin immer vollkommener werdet. Denn ihr wisst, welche Gebote wir euch gegeben haben durch den Herrn Jesus. Denn das ist der Wille Gottes, eure Heiligung, dass ihr meidet die Unzucht und ein jeder von euch seine eigene Frau zu gewinnen suche in Heiligkeit und Ehrerbietung, nicht in gieriger Lust wie die Heiden, die von Gott nichts wissen. Niemand gehe zu weit und übervorteile seinen Bruder im Handel; denn der Herr ist ein Richter über das alles, wie wir euch schon früher gesagt und bezeugt haben. Denn Gott hat uns nicht berufen zur Unreinheit, sondern zur Heiligung. Wer das nun verachtet, der verachtet nicht Menschen, sondern Gott, der seinen heiligen Geist in euch gibt
(1.Thess.4,1-8)

Liebe Gemeinde, liebe Gäste.

„mit dem Zweiten sieht man besser“ behauptet das ZDF, von dem Vertreter/innen heute diesen Gottesdienst mitfeiern. Ich verstehe nur nicht, weshalb man sich bei diesen Worten das andere Auge, das Erste also, zuhalten muss. Zwei Augen sehen mehr als eins und sei es das Zweite, denke ich.
Aber das nur als kleinen Einstieg, man möchte ja aktuell sein. Bei uns geht es nicht um die Augen sondern um die Ohren.
Hören zwei Ohren mehr als eins? Oder ist das zweite Ohr öfter dazu da, das schnell durchzulassen, was durchs erste Ohr hineingekommen ist?
Jemand sagte zu Beginn meines Dienstantritts: Ach, wissen Sie, manches, was in der Gemeinde geredet wird, das lassen Sie zum einen Ohr rein und zum andern schnell wieder raus. Ein wahrscheinlich guter Rat. Nur, man muss erst einmal herausbekommen, wobei man auf Durchzug zu schalten hat. Ich gestehe, daran lerne ich schon einige Jahrzehnte und falle immer wieder darauf rein. Ich höre, wenn es sich nicht lohnt und ich schalte auf Durchzug, wenn ich hören sollte.
Auf Durchzug, liebe Gemeinde, schalte ich besonders schnell, wenn ich ermahnt werde. Ich finde, dafür muss die Welt Verständnis haben.
Einen alten Knochen von 65 Jahren, den sollte man doch getrost in Ruhe lassen können oder? Andererseits, ob ich wirklich glücklich bin, wenn ich in Ruhe gelassen werde? Fühle ich mich nicht eigentlich im Grunde ganz wohl in meinem Murren gegen Ermahnungen. Gehört es nicht auch zum Leben, mal meckern zu können über die scheinbaren Besserwisser? Ach, im Grunde fühlt man sich doch auch letztlich wohl in seiner Verärgerung.
Wenn wir in Ruhe gelassen werden, dann sind wir doch nahe Null. Wer keinen Grund mehr hat, sich aufzuregen, der ist irgendwie schon ziemlich tief gefallen. Ich könnte mir vorstellen, dass es nicht wenige Deutschsprachige in Alanya gibt, die sich geradezu danach sehnen mal wieder ermahnt zu werden, sich mal über jemanden aufzuregen, den man im Grunde doch ganz gern hat. Um aus dem pfarrherrlichen Nähkästchen zu plauschen, am Donnerstag stand ich auf dem Friedhof und beerdigte einen alten deutschen Mann. Die Trauergemeinde bestand aus vier Grabgräbern, der Bestatterin, zwei Fotografen und mir, schwitzend im Talar. Wenn da doch noch ein paar Leute gewesen wären. Egal ob sie in einem freundlichen oder angespannten Verhältnis zum Gestorbenen gestanden haben. Hauptsache, sie hätten mitdenken, das Vater unser mitbeten, vielleicht sogar ein altes und sei es ein abgedroschenes Beerdigungslied mitsingen können. Wie stehen wir da in der muslimischen Umwelt, die so auf die Familie schwört. Wie steht es mit der jüdisch-christlichen Werken der Barmherzigkeit, Tote zu begraben und trauernde zu trösten?
Ich wollte nur sagen, man weiß noch nicht einmal, womit man in dieser Welt beschenkt ist. Es kann die mahnende Stimme des Ehepartners sein. Es kann die kleinliche Kritik eines Nächsten sein.
Wer ermahnt wird, wer kritisiert wird, der ist noch nicht ganz tot.
Und so genommen, liebe Gemeinde, ist das Neue Testament, sind die Briefe des Apostels einmalige Lebensbotschaften, denn sie ermahnen uns noch und noch, so dass es vielen schon zum anderen Ohr herauskommt.
Hören wir uns die Mahnungen in unserm Text an. In meiner Bibel steht schon als Überschrift „Ermahnung zur Heiligung“ und dann geht es los: Wir bitten und ermahnen euch, so wahr wir im selben Boot sitzen, das Geist Jesu Christi heißt. Ein jeder soll seine eigene Frau gewinnen. Keiner soll seinen Nächsten übers Ohr hauen. Von der Befolgung dieser Mahnung hängt Tod und Leben, also eure Christusbeziehung ab.
Ich habe lange gebraucht, bis ich Schafskopf begriffen habe, weshalb der Apostel Seite um Seite in seinen Briefen Mahnungen schreibt und warum seine Hörer bzw. Leser so etwas so sorgfältig aufgehoben haben. Ach ja, das hätte ich fast vergessen, wir hörten einen Abschnitt aus einem unglaublichen Dokument. Das erste Schriftstück, das wir vom Apostel Paulus haben, den 1.Brief an die Thessalonicher. Wie viel Millionen Menschen haben das voll Respekt gelesen? Wie viel tausend sind davon inspiriert worden? Wir haben doch leider nahezu vergessen, welcher Schatz uns in die Hände gelegt worden ist. Wir gehen damit um wie mit unseren Eltern, unseren Traditionen, alles nur lästig, alles freiheitsverhindernd.
Also, weshalb mahnt der Apostel Seite um Seite und hier auf zwei ganz entscheidenden Gebieten, der Sexualität und des Besitzes?
Er ermahnt deswegen, weil er und seine Gemeinde eine unglaubliche Freiheitserfahrung machten. Eine neue Wirklichkeit, eine Realität im schärfsten Sinn des Wortes hatte sie ergriffen, die Realität ewigen Lebens durch die Begegnung mit Jesus Christus. Über ihre Existenz war ein für allemal entschieden worden zu Gunsten des Lebens.
Die Folge war, alle Bindungen fielen.
So kann der Apostel sagen, seine ganze bisherige Existenz sei zu einem Nichts, zu einem Dreck geworden aufgrund der Begegnung vor Damaskus. Und der Gemeinde in Thessaloniki um 50 unserer Zeitrechnung war Ähnliches begegnet. Was zählte nach der Ankunft des Lebens Sitte und Moral, was galt Besitz, Handel und Wandel? Alles war vor der Gabe des Lebens zusammengeschrumpelt zu einem Nichts, einem Kehricht, wie eine Übersetzung sehr vornehm formuliert.
Der geniale und manchmal fürchterliche Martin Luther hat das, was ich Ihnen sage ungeheuer treffend formuliert. Er sagt: „Ein Christenmensch ist ein freier Herr über alle Dinge und niemand untertan. Ein Christenmensch ist ein dienstbarer Knecht aller Dinge und jedermann untertan“. Der durch Jesus Christus zum Himmel erhobene Mensch ist frei, frei gegen über seinem Herrn Jesus Christus und damit frei zum Dienst gegen alle Kreatur.
Wir sind also so frei, dass wir uns mahnen und bitten lassen können, ja, dass wir uns geradezu nach Ermahnung und Bitte sehnen, um mit den Füßen auf der Erde zu bleiben.
Irgendwie möchte ich jetzt zum Schluss kommen, liebe Gemeinde. Und ein halbwegs anständiger Schluss, lesen Sie es in den Medien nach, ein passabler Schluss kommt unweigerlich zum Anfang zurück.
„Mit dem Zweiten sieht man besser!“ Das war der Beginn. Wir setzen über Jahrhunderte schon aufs Ohr. Wir lassen uns sagen, dass wir geliebt sind, wo wir auch stehen oder gehen fallen oder verlieren, wir sind freie Menschen geworden. Aber die draußen. Von denen der Apostel ganz schaurig schreibt, dass sie Heiden wären, die in „gieriger Lust“ ihr Leben verschwenden, die hören nicht so sehr, was wir sagen, die sehen uns, Die überzeugt wer wir sind im Alltag, in der Begegnung, in unserem Gehabe. Und wenn ich schon diese Stelle von der „gierigen Lust“ der Heiden zitiere, dann darf ich aus meiner Erfahrung sagen, dass die Heiden mir viel gezügelter, auch viel lebensfroher begegnen als ich es oft bin. Wir dürfen lernen, unsere Freiheit zu gebrauchen, darum ermahne ich euch. Amen.